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Aus der Ukraine kommen täglich viele Bilder in die Nachrichten. Die meisten sind schrecklich. Sie zeigen zerstörte Häuser, Soldaten mit Gewehren und Menschen auf der Flucht. Es gibt aber auch andere Bilder. Eines davon möchte ich in den Mittelpunkt meiner Gedanken stellen. Es zeigt Menschen irgendwo in der Ukraine, die ein lebensgroßes Kruzifix aus einem Schuppen bergen. Sie gehen dabei mit größter Vorsicht vor, damit nur ja nichts beschädigt wird. Sie wollen das alte Kreuz in Sicherheit bringen, damit es nicht zerstört wird, wie so vieles in diesem Krieg.
Man könnte sich nun fragen, ob diese Leute keine anderen Sorgen haben, als sich um so ein totes Stück Holz zu kümmern. Hat nicht der Gekreuzigte selbst von einem Gott gesprochen, dem die Lebenden wichtiger sind als die Toten? Nein, es scheint gerade dieses Kreuz zu sein, das ihnen jetzt besonders kostbar ist. Zu wissen, dass Jesus auch für sie und ihre Landsleute am Kreuz gestorben ist, gibt ihnen einen Halt, den sie sonst nirgends finden. Das ist etwas, dass ihnen sogar in dieser dunklen Zeit heilig ist. An dem sie sich aufrichten. Das ihnen einen Rest an Menschlichkeit und Würde belässt, den sie nicht aufzugeben bereit sind.
Und noch etwas. Der Gekreuzigte erinnert sie an das Leid ihres ukrainischen Volkes. Auf dem Gesicht Christi erkennen sie den Schmerz derer, die verwundet worden sind. Sein geschundener Körper sieht aus, als wäre er einer von den Gefallenen in diesem sinnlosen Krieg. Das gibt ihnen Trost. Und weil sie glauben, dass der Gekreuzigte der Auferstandene ist, schauen sie so auch auf die Toten. Mit einem letzten Funken Hoffnung, den sie nicht aufzugeben bereit sind.
Vier Menschen tragen ein altes hölzernes Kreuz aus einer Wellblechbaracke. Wer hat wohl schon vor diesem Kreuz gebetet? Wer hat sein Leben in die Hand Gottes gelegt? Wer hat verzweifelt um Hilfe gerufen, weil alles aussichtslos war? Die Menschen in der Ukraine haben schon viel Leid gesehen in der Geschichte ihres Landes. Und fast kommt es mir so vor, als ob das Gesicht des Christus an diesem Kreuz nun noch mehr von Schmerzen gezeichnet ist. So weh tut ihm das, was derzeit dort geschieht.
Ihre Pfarrerin Dorothee Schmitt